Impuls: Warum wir ein Obergemach brauchen
Mit Beginn der neuen Woche richtet sich unser Blick bereits auf das bevorstehende Pfingstfest. Die neun Tage zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten erinnern an die kurze Zeitspanne, in der die österliche Gemeinde nach der Aufnahme ihres Herrn in den Himmel wieder an den Ort zurückgekehrt ist, an dem der Meister mit ihnen zuvor das Paschafest gefeiert hatte. Zu Beginn der Apostelgeschichte heißt es wörtlich: "Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben..." (Apg 1,13a) Dann folgt die namentliche Nennung der elf Apostel. Gemeinsam mit Maria, der Mutter Jesu und den anderen Frauen und seinen Brüdern "verharrten sie dort einmütig im Gebet". Was ist mit dem Wort "Obergemach" gemeint? Wenn man sich in der Bibel umschaut, kann man entdecken, dass damit mehr als die gute Stube oder das Wohnzimmer bezeichnet wird. Im Alten und Neuen Testament treffen wir nur an einigen Stellen auf diesen Begriff. Aber dort ist er jeweils mit einer hohen symbolischen Bedeutung aufgeladen. Zugleich gibt er Hinweise, die auch für uns in dieser bewegten Zeit einen spirituellen Impuls enthalten könnten. Auf zwei bzw. drei Bibelstellen müssen wir uns an dieser Stelle beschränken.
Einmal finden wir dieses Wort im Buch des Propheten Daniel. Daniel ist ein nach Babylon verschleppter Jude aus königlichem Haus. Er verfügt über außergewöhnliche Talente, so dass er am Königshof Babylons Karriere macht. Er vergisst dabei jedoch nicht seine Herkunft und verrät nicht seinen Glauben: "In seinem Obergemach waren die Fenster nach Jerusalem hin offen. Dort kniete er dreimal am Tag nieder und richtete sein Gebet und seinen Lobpreis an seinen Gott, wie er es gewohnt war." (Dan 6,11) Das regelmäßige Gebet vor den offenen nach Jerusalem ausgerichteten Fenstern des Obergemachs schützt ihn vor den Versuchungen aufgrund seiner herausgehobenen Machtposition und angesichts des babylonischen Götterhimmels.
Abendmahlsaal in Jerusalem aus der KreuzfahrerzeitBild: © Robert Hoetink/Fotolia.com
Im Neuen Testament treffen wir auf den Begriff zum ersten Mal im Lukasevangelium. Jesus beauftragt Petrus und Johannes, in Jerusalem für ihn und seine Pilgergruppe ein Obergemach anzumieten und dort das Pascha-Mahl vorzubereiten. Dieser Ort wird zum einzigartigen Gedächtnisort. Am letzten Abend seines irdischen Lebens feiert Jesus mit seiner Gemeinde das Abendmahl und nimmt darin seinen eigenen gewaltsamen Tod vorweg, in den auch der engste Apostelkreis in unseliger Weise verstrickt ist: Judas wird ihn noch in dieser Nacht verraten, Petrus ihn dreimal verleugnen, seine Jünger die Flucht ergreifen. An diesen "Tatort", in dieses Obergemach, kehren die Apostel mit Maria, der Mutter Jesu, den anderen Frauen und seinen Freunden nach der Aufnahme Jesu in den Himmel zurück. Was muss sie dazu bewogen haben? Wir können nur ahnen, was sich bei ihnen zwischen dem Paschamahl und dieser neuen geistlichen Versammlung - durch seine Auferstehung und in Erwartung auf Pfingsten - ereignet hat. Seit Pfingsten ist das Obergemach untrennbar mit der Verwandlung aus Feigheit und Verrat in die begeisterte Jesusbewegung und mit dem Neustart der zuvor verängstigten Jünger und Jüngerinnen als mutige Zeugen seines Evangeliums verwoben.
Bis heute ist nicht geklärt, wo das letzte Abendmahl wirklich stattgefunden hat. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtiger als die Historizität des Obergemachs ist seine geistliche Bedeutung. Wie der Prophet Daniel brauchen wir das Obergemach als Ort, an den wir uns zur Meditation und zum Gebet zurückziehen können. Dann sind wir auch in der Lage, den Versuchungen der Götzen unserer Zeit zu widerstehen und "die Geister zu unterscheiden". Wie die Apostel, die Frauen und der Freundeskreis Jesu brauchen wir das Obergemach, damit auch wir das Osterwunder einer heilsamen Verwandlung unserer eigenen Brüche, von Scheitern und Schuld im eigenen Leben erfahren dürfen. Auch wir brauchen ein Obergemach, an dem sich heute Pfingsten ereignen kann als Geschenk des Heiligen Geistes, der Verständigung ermöglicht, verhärtete Positionen verflüssigt und zum Neustart einlädt.
Mit diesem geistlichen Impuls verabschieden wir uns und wünschen Ihnen ein gesegnetes Pfingstfest!
Ihre AG Spiritualität: Claudia Lauer, Prof. Dr. Martin Lörsch, Patricia Loskill, Hans Rosprim und Anne Veit-Zenz