Neuer Blick auf Demenz-Kranke
Was hat Sie dazu motiviert, zum ungewöhnlichen Thema "Demenz und Spiritualität" ein Buch zu schreiben?
Ich habe zwei Jahre lang ein berufsbegleitendes Studium "Palliative Care" absolviert, und meine Masterarbeit war die Vorlage für das Buch. Einige Jahre hatte ich das Projekt "Tagesmütter für Demenzkranke" begleitet und dort erfahren, wie humorvoll und kreativ Menschen in einer Demenz sein können. Ich lernte Angehörige kennen, die über Jahre in Pflege und Betreuung eingebunden waren und ihre Erfahrungen mit mir teilten, und ich war mit engagierten Ehrenamtlichen unterwegs, die mich immer wieder überraschten mit ihren Einfällen. Ich fand zu einer neuen Perspektive: Schienen erst die Defizite einer Demenzerkrankung im Vordergrund zu stehen, so entdeckte ich zunehmend, welche Möglichkeiten die Menschen noch zur Verfügung hatten. Das Thema Spiritualität beschäftigt mich persönlich sehr. Je mehr ich mich damit auseinandersetze, umso häufiger begegnet Spiritualität mir, wenn ich zu schwerstkranken und sterbenden Menschen komme. Immer wieder gibt es Kontakte, in denen sich scheinbar kurzzeitig eine andere Dimension auftut. Das sind dann sehr intensive und nachhaltige Begegnungen.
Karin Jacobs
Inwieweit fließen Erkenntnisse aus Ihrer Studie in Ihre Praxisarbeit ein?
Es war eher umgekehrt: Viele Erfahrungen, Begegnungen und Erlebnisse aus der Praxis haben mich zum Studium des Palliative Care-Studiums geführt. Ich wollte herausfinden, ob sich diese Praxiserfahrungen wissenschaftlich begründen lassen. Und häufig hatte ich dann beim Lesen wissenschaftlicher Literatur konkrete Situationen und Menschen vor Augen.
Sie haben einen "neuen Blick" auf Demenzkranke: Wie sollten wir also mit ihnen umgehen?
Wir sollten mehr auf verbliebene Fähigkeiten und Ressourcen schauen, wenn wir Menschen mit Demenz begegnen. Es ist viel erfüllender, ihre Feinfühligkeit, ihre Fähigkeiten und ihren Humor zu entdecken, anstatt immer nur zu beklagen, was sie "falsch" machen oder nicht mehr können. Die Tendenz, den Wert und die Würde eines Menschen am Verstand festmachen zu wollen, erscheint mir bedenklich. Der Mensch ist weit mehr: neben den kognitiven Fähigkeiten, gilt es die Emotionen, die Physis, das soziale Gefüge und ganz im Inneren eines jeden auch die Spiritualität wahrzunehmen. Dann werden Begegnungen mit demenzerkrankten Menschen sich verändern. Unsere Gesellschaft steht vor der Herausforderung, die demenzkranken Menschen wirklich zu integrieren.Vielleicht nehmen dann auch die Ängste vor diesem Zustand des "ohne Verstand-Seins" (De-menz) ab.