Caritas ist keine Theorie
Es gab eine "fromme Oma", die den Glauben lebte, und einen "sehr menschlichen Dorfpfarrer", der ihr "die entscheidende Frage" stellte: "Wieviel Liebe hast Du?" Die Antwort: "Genug." Ordensfrauen hatte sie zuvor nie kennen gelernt, doch die junge Frau aus dem österreichischen Burgenland blieb fest entschlossen und trat in den Orden der Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu ein.
Heute, viele Jahre später, kann man sagen: Gott sei Dank. Denn wer je erlebt hat, wie Schwester M. Radegundis Ulberth mit Menschen - ob nun geistig behindert oder nicht - umgeht, der weiß: Diese Frau ist genau an der richtigen "Adresse", sie lebt ihre Berufung mit Herz und Verstand. Und wenn die Oberin der Schwesterngemeinschaft im Herz-Jesu-Haus Kühr in Niederfell/Mosel an die Bedenken ihrer Eltern denkt, dann lacht die 75-Jährige und sagt mit fester Stimme: "An Schwierigkeiten bin ich eher gewachsen." Ihrer Lebenshaltung "gegen den Strom" sei sie auch im Orden treu geblieben. Ihre Schwäche sei, "dass ich sehr spontan bin und immer direkt Bescheid sage", das sei für Andere nicht immer so einfach.
Gegen den Strom kam vieles in Fluss
Caritas muss man leben, sagt Schwester Radegundis. Sie ist die Oberin der Schwesterngemeinschaft im Herz-Jesu-Haus Kühr.Ingrid Fusenig
"Gegen den Strom" kam vieles in Fluss: Nach dem Noviziat in Wien übernahm Schwester Radegundis von 1964 bis 1971 im Burgenland die Leitung eines Kindergartens. Diese Aufgabe war so ganz nach ihrem Geschmack. Denn sie wollte ihr Leben auf gar keinen Fall abgeschirmt hinter Klostermauern verbringen, sondern mit und für Menschen leben. Schwester Radegundis bringt das so auf den Punkt: "Mein Gebet ist leben."
Ein abwechslungsreiches "Gebet" der steten Veränderung und Entwicklung, kann man rückblickend sagen: Die Eltern starben früh; und der Orden hatte eine neue Aufgabe in Deutschland. So kam die Ordensschwester 1971 an die Mosel und leitete bis 2001 die Kindertagesstätte Niederfell in Trägerschaft des Ordens.
Inklusion schon gelebt, bevor es das Wort gab
Das Besondere: Wörter wie "Inklusion" waren noch nicht "geboren", der Begriff "Integration" lange nicht in aller Munde, da wurde das schon wie selbstverständlich im Herz-Jesu-Haus Kühr gelebt. "Seit 1972 haben wir in die Tagesstätte auch Kinder mit Behinderung aufgenommen. Das sprach sich herum und ist gewachsen", erzählt die Erzieherin, die ein Studium der Sozialpädagogik absolviert hat. Sie leitete nicht nur die Kindertagestätte, sondern auch eine Wohngruppe mit geistig behinderten Menschen. Besonders wichtig ist dem Zentrum auch die Öffnung zur Gemeinde. Es ist ein Miteinander, keine Isolation - Integration eben.
Wie sehr Schwester Radegundis die Menschen - Bewohner und Mitarbeiter gleichermaßen - ans Herz gewachsen sind, wird schnell deutlich. Über sich und ihr Leben berichtet sie im Sauseschritt und sagt immer wieder: "Ach, meine Person ist doch nicht so wichtig." Beim Rundgang durch das Zentrum aber, da lässt sie sich Zeit, erklärt detailliert und voller Begeisterung.
Das "Haus" ist in Wahrheit ein riesiger Gebäudekomplex mit speziellen Angeboten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit geistiger Behinderung. Spielen, leben, lernen, arbeiten, sich angenommen und wertgeschätzt fühlen, am Leben in der Gemeinschaft teilhaben: All das ist möglich. 300 Bewohnerinnen und Bewohner haben in Niederfell ein Zuhause gefunden: Schwester Radegundis kennt sie alle mit Namen, weiß um ihre Lebensumstände, Sorgen, Nöte, Ängste und um ihre schönen Momente. Und sie freut sich mit ihnen über Erfolge: "Sehen Sie, dieses behinderte Mädchen konnte bis vor Kurzem nicht laufen. Und jetzt flitzt sie hier frohgelaunt um die Ecke." Schwester Radegundis liebt ihre Arbeit im Zentrum und sagt: "Caritas muss man leben." Nur davon erzählen, das sei doch nicht glaubwürdig.
Sie übernimmt auch übergeordnete Aufgaben
Trotz des intensiven Dienstes am Nächsten scheut Schwester Radegundis sich nicht, auch andere, übergeordnete Aufgaben zu übernehmen. In Niederfell ist sie Oberin der Schwesterngemeinschaft; ist vorsitzende Gesellschafterin des Trägers des Herz-Jesu-Hauses, der Kührer Fürsorge GmbH; etliche Jahre war sie in Wien Generaloberin ihrer Schwesterngemeinschaft und hatte die Verantwortung für Mitschwestern in zehn Häusern in Österreich, Deutschland, Polen und Tschechien.
Sie arbeitete zudem eng mit den Schwestern der Föderation in England und Frankreich zusammen oder besuchte die Missionen in Kolumbien und auf den Philippinen. "Ich habe viele Termine, auch vom Orden aus. Oft höre ich: ‚Fliegst du schon wieder weg?‘" Doch auch in der Gemeinde Niederfell bringt sie sich ein, ist im Pfarrgemeinderat oder spendet die Krankenkommunion. "Das ist doch klar, man wird auch feinfühlig für die Not im Ort."
Niederfell ist ihre Heimat geworden
Immer nur für Andere da sein, ein Leben ohne Verschnaufpause? "Nein, nein. Wer nicht genießen kann, ist ungenießbar", befindet die 75-Jährige. Ein Sabbatjahr ist es zwar nicht geworden, aber sie gönnte sich schon einmal eine Auszeit von zwei Monaten. Und jedes Jahr versucht sie, für zehn Tage ihr Lieblingsland Irland zu besuchen. Sie liebte es stets sehr sportlich, bis heute wandert und schwimmt sie für ihr Leben gerne.
Schwester Radegundis kann sich gut vorstellen, nächstes Jahr in Ruhestand zu gehen. Was auch immer das bei ihr wohl bedeuten mag. Jedenfalls würde sie von Herzen gerne in Niederfell bleiben. "Das ist meine Heimat geworden. Hier fühle ich mich zuhause!" Sagt es und wendet sich einer aufgeregten Frau zu, die eine neue Betreuerin bekommen hat. Eine Umarmung später ist alle Skepsis vergessen, und die Frau strahlt mit "meiner Radegundis" um die Wette.